«Lieber François,
...Meine Erfahrungen habe ich mal runtergetippt, aber ich habe dabei eigentlich nur Deine Fragen "abgeklappert"...
1. Was war für mich in den Ich-Botschaften anderer erkennbar, was sich auch in meiner eigenen Erfahrung in einer ähnlicher Weise gezeigt hat?
Ich hatte den Eindruck, dass alle Gruppenmitglieder sich bei den Nebenübungen im Kampf gegen sich selbst befunden haben. Dieser Kampf sah bei allen, je nach Veranlagung und Ausprägung von Fähigkeiten und Unfähigkeiten völlig unterschiedlich aus, aber bei jedem ging es um eine Selbstüberwindung im besten Wortsinn.
2. Was hat mich in diesen wöchentlichen Meetings motiviert und in meiner weiteren Ausübung der Nebenübungen gestärkt?
Ich konnte leider nur zweiwöchentlich teilnehmen. Das hat aber keine Rolle dafür gespielt, dass ich das Gefühl hatte, ich komme endlich aus dem Schmoren im eigenen Saft heraus. Frust und Freude zu teilen, die sich beim Scheitern und bei Erfolgen (und seien sie auch noch so klein) einstellen, hat mir das Gefühl gegeben, dass ich auf dem richtigen Weg bin und vor allem bei Misserfolgen die Verzweiflung gemildert. Dass es noch andere gibt, die üben und versuchen, ist tröstlich und verleiht mir das Gefühl, dass ich mit meinem Streben nicht völlig allein auf der Welt bin.
3. Welche Übungen fallen mir besonders schwer, bei welchen Übungen deuten sich schon erkennbare Fortschritte an und wie zeigt sich das?
Gerade während der Teilnahme an dieser Staffel hat sich bei mir ein Knoten in Bezug auf die dritte Übung gelöst. Das ist sehr befreiend! Es ist natürlich nicht so, dass da alles klappen würde oder ich das Gefühl habe, ich könnte mich jetzt zurücklehnen… Aber während ich vorher immer den Eindruck hatte, ab der Positivitätsübung zerfasere alles irgendwie und mein Übungsfeld entziehe sich mir einfach im Alltag, bemerke ich hier einen deutlichen Unterschied: Wenn ich es schaffe, eine Situation der inneren Gelassenheit herzustellen, rückt auf einmal in Momenten der Gefühlsstürme die Frage in den Blick, was gut, was schätzens-, bejahens- und liebenswert an dem ist, mit dem ich mich herumschlage.
Die ersten beiden Übungen klappen schon seit Längerem (natürlich mit Einschränkungen und je nach Tagesform und Belastungsdruck) einigermaßen gut. Und mein Kampf galt in den letzten Jahren immer der dritten Übung, während ich die vierte und fünfte Übung im Alltag trotz den besten Vorsätzen meist schlicht vergessen habe. Erst seit die dritte Übung hin und wieder zu gelingen beginnt, rückt die Positivitätsübung auch wirklich in den Fokus.
Mein persönlicher Eindruck ist, dass sich die Übungen in ihrer Reihenfolge immer mehr von konkreten Tätigkeiten in das Einüben von Haltung verwandeln. Zumindest für mich steigert sich da der Schwierigkeitsgrad erheblich, und ein Voranschreiten scheint mir mit dem Gelingen des Vorangegangenen zusammenzuhängen.
4. Welche Aussagen sind für mich besonders in Erinnerung geblieben und inwiefern wirkten sich diese für mein tägliches Tätigsein und den Verlauf meines Übungswegs aus?
Da gibt es unaufzählbar Vieles.
Unterm Strich bleibt die zentrale Erkenntnis bei mir hängen: Die Probleme, mit denen ich mich herumschlage, liegen in mir, nicht außerhalb. Sibylle hat das einmal wunderschön auf den Punkt gebracht, indem sie sinngemäß gesagt hat: „Das Problem ist nicht der unvollständig weggeräumte Mülleimer, das Problem bin ich selbst mit meiner Erwartungshaltung.“
5. Was war für mich der besondere „Spirit“ in der Gemeinschaft meiner Kleingruppe?
Alle waren sehr offen und ehrlich. Es gab keine Denkverbote und auch keinen unterschwelligen Druck, irgendwer sei oder mache etwas falsch. Im Vordergrund standen Interesse und Unterstützung. Besonders wertvoll fürs Vorwärtskommen schien mir die rückhaltlose Ehrlichkeit aller.
6. Würde ich aus heutiger Sicht etwas anders machen oder haben wollen und was sind meine Ideen oder Anliegen für eine Verbesserung des Formats der Nebenübung-Online-Treffen? Bist du völliger Anfänger oder hast du Vorerfahrung mit den NÜ? Wenn du Vorerfahrung hattest, haben die NÜ gut geklappt?
Wir haben für die kommende „Saison“ beschlossen, in der Gruppe zu bleiben, in der wir uns bereits kennen und werden versuchen wieder einen Termin zu finden. Alle, die noch dabei sind (vier von ursprünglich sieben bzw. acht), haben sich dafür ausgesprochen, künftig individualisiert weiterzumachen. D. h. es üben nicht alle in den gleichen, monatlich wechselnden Schritten, sondern jeder übt an der Stelle, die für ihn am sinnvollsten ist. Wir sind zu der Überzeugung gekommen, dass trotzdem alle voneinander profitieren könnten, da uns ja schon ein wenig kennen, und das, was jeder beizutragen hat, eher von ihm als Persönlichkeit herrühren mag als von der Übung, die er gerade macht. - Außerdem bleiben die Übungen ja die gleichen, nur die Schwerpunkte sind individuell verschieden.
Online-Treffen haben natürlich gegenüber persönlichen Treffen immer Nachteile. Ich persönlich bin aber sehr dankbar für das, was sie ermöglichen: den Austausch mit Menschen, die die gleichen Interessen haben, aber weit entfernt leben. Verbesserungsmöglichkeiten sehe ich keine. Was Online-Kontakt für Nachteile mit sich bringt, liegt ja in der Natur der Sache, ich finde aber, dass die Vorteile überwiegen.
Ich mache die Nebenübungen bereits seit ein paar Jahren. Während die erste und die zweite Übung schon ein wenig „in Fleisch und Blut“ übergegangen waren, hat sich die Arbeit in der Gruppe als wahrer Glücksfall für das Vorwärtskommen bei der dritten Übung herausgestellt (vgl. Frage 3.).
7. Erwartungen/ Realität vor Beginn/ bei Ende?
Ich hatte keine echten Erwartungen, außer dass ich einmal von meiner kleinen Insel herunterkomme und sehe, wie die anderen arbeiten, sich entwickeln und ihren Weg suchen.
Teilweise hätte ich mir sicherlich mehr „technische Tipps“ erhofft (z. B. welche Möglichkeiten sehen die anderen im Umgang mit verschiedenen Formen des gedanklichen Abschweifens bei der Konzentrationsübung?) - mir ist aber auch deutlich geworden, dass solche „Tipps“ immer die Gefahr bergen etwas Hochindividuelles zu verallgemeinern: Dass es so bei mir gut klappt, heißt ja nicht unbedingt etwas für dich.
8. Wirst du die NÜ weiter machen, und wenn ja wie (alleine, in einer Gruppe, oder noch eine weitere Staffel besuchen?)
Ja, wir haben bereits beschlossen weiterzumachen (s. Frage 6.).
9. Für welchen Typ Mensch eignen sich die NÜ in Gruppenarbeit?
Mein Eindruck ist: für jeden, der sich austauschen will. Üben muss natürlich jeder für sich und mit (bzw. gegen!) sich selbst.
10. Würdest du anderen Menschen aus deinem Bekannten/ Freundeskreis empfehlen NÜ zu machen? Und wenn ja, wirst du denen von deinen Erfahrungen erzählen?
Meine Erfahrungen mit dem Reden über Anthroposophie bzw. Schulungsweg/Übungen sind eigentlich durchweg schlecht. Lieber halte ich da den Mund (auch eine Übung!). – Natürlich ist es toll, wenn jemand sich interessiert! Da würde ich vielleicht nicht unbedingt Empfehlungen für Übungen aussprechen, aber herzlich gerne auf alle Fragen/Anliegen eingehen, soweit ich vermag.
11. Liegen in den NÜ in Gruppenarbeit fruchtvolle Zukunftsimpulse, wenn ja welche?
Ich glaube, dass es mit den Nebenübungen so ist wie mit allem Lernen und Ringen: Man lernt allein und kämpft mit sich. Aber die Gruppenarbeit schafft eine sehr wertvolle Gelegenheit, Erfahrungen auszutauschen, Hilfestellung zu bekommen/geben, Perspektivwechsel zu erfahren und Trost zu spenden/bekommen. Man geht erfrischt und mit neuen Impulsen an die Einzelarbeit zurück.
12. Wie erklärst du einem Menschen, der weder Ahnung von Anthroposophie noch von den NÜ hat, worum es essenziell bei den NÜ geht?»
Es geht um eine Überwindung der egozentrischen Einengung der eigenen Perspektive: um Befreiung des Denkens, Wollens, Fühlens, eine Verwandlung des Liebens, des Urteilens und der eigenen Einseitigkeit.
Nachdem der Mensch aus der kosmischen Einheit herausgetreten ist, um sich seinerselbst bewusst zu werden, kann er nun verwandelt aus seiner Abkapselung in den Kosmos zurückkehren. Die Nebenübungen sind ein Weg, an dieser Verwandlung zu arbeiten.»
Sebastian H., 29. Mai 2023